Montag, 1. Juni 2009

Die ins Haus gelieferte Realität

Der Fernseher als simulierte Realität. Der Fernseher als Instrument der Macht. Der Fernseher als Kontrollorgan. Der Fernseher als ein zentraler Punkt im Leben der Menschen. So ungefähr könnte man dieses Gerät in "The Simulacra" definieren. Ein Objekt ohne Bewusstsein, welches Bewusstsein konstituiert.


Testbild

"[...] wir sind dennoch dabei, blicken durch das sorgfältig modulierte Fenster unseres Fernsehapparates in das Allerheiligste." (Dick 1964: 24)

Dieser Satz Ian Duncans lässt schon eine Schlussfolgerung, aus welchem Blickwinkel der Fernseher betrachtet wird, zu: Das Gerät als Fenster zur Welt, als Teleskop, welches die Möglichkeit bietet, Realität in den eigenen vier Wänden zu erleben. Wenn Ian Duncan schon nicht physisch - also "wirklich", "real" - im Weißen Haus bei Nicole Thibodeaux sein kann, hat er durch den Apparat wenigstens die Möglichkeit, sich den Anschein einer Teilnahme vorzugaukeln und damit auch den Anschein, dieselben Erlebnisse machen zu können, als wäre er "wirklich" dort. Ich spreche bewusst von "Anschein", denn in Wahrheit macht Duncan nicht dieselben Erfahrungen mit dieser "Schein-Anwesenheit". Seine Erfahrungen werden nämlich nicht nur von Bild und Ton produziert, auch das Medium selbst - der Fernsehapparat - ist Teil der Erfahrung. Er nimmt nicht teil, er konsumiert nur das Bild.

Günther Anders nennt dies den "Bilderbuch-Effekt". (vgl. Anders 1956: 100)




"Was uns prägt und entprägt, was uns formt und entformt, sind eben nicht nur die durch die 'Mittel' vermittelten Gegenstände, sondern, die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struktur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil unserer Beschäftigung und unseres Lebens, kurz: u n s." (Anders 1956: 100)

Anders hat in diesem Satz sehr deutlich formuliert, dass uns nicht nur die Botschaft, sondern auch das Medium, welches die Botschaft vermittelt, prägt bzw. Einfluss nimmt, wie wir rezipieren.

Wie wird der Fernseher in "The Simulacra" verwendet, bzw. was macht er aus den Menschen?

Nicole Thibodeaux verwendet dieses Medium ganz klar, um die Menschen an sich zu binden. Sie schafft durch den Apparat eine eigene Realität von ihr, ein bestimmtes Bild, welches sie in den Augen der Bürger zum "Über-Menschen", zum geistigen Führer einer Nation macht, zur letzten Instanz für die Entscheidung über richtig und falsch.

"Wir sollen nicht zu viel an den Mars denken, daran, wie man sich von der Partei - und von Nicole - lösen kann." (Dick 1964: 26)

Weiters wird der Fernseher als Kontrollorgan benutzt. So können die Bürger beispielsweise bei einem "Überraschungsquiz" durch gute Ergebnisse ihre Loyalität bzw. "Fahnentreue" beweisen, oder einfacher gesagt: ihren Nutzen in der Gesellschaft. (vgl. Dick 1964: 25)

Ebenso gaukelt der Fernsehapparat den Bürgern ein demokratisches Recht vor, welches sie durch den Fernseher geltend machen können, wie etwa, ob sie eine Ansprache sehen wollen oder nicht. Je nachdem, wieviele Leute welchen Knopf am Fernseher drücken, wird die Rede weitergesendet oder nicht. (vgl. Dick 1964: 31) Fraglich ist hierbei nur, ob sich die Fernsehanstalt wirklich nach dem Wunsch der Mehrheit richtig - schließlich sind die Ergebnisse für die Masse nicht überprüfbar.

Das Fernsehen macht die Menschen in "The Simulacra" jedoch nicht nur zum Massenmenschen, sondern auch zu Hersteller des Massenmenschen. Wie das?

"Massenmenschen produziert man ja dadurch, daß man sie Massenware konsumieren läßt; was zugleich bedeutet, daß sich der Konsument der Massenware durch seinen Konsum zum Mitarbeiter bei der Produktion des Massenmenschen (bzw. zum Mitarbeiter bei der Umformung seiner selbst in einen Massenmenschen) macht. Konsum und Produktion fallen hier also zusammen." (Anders 1956: 103)

Anders geht hier aber noch weiter und führt seinen Gedanken konsequent zu Ende:

"Vollends paradox wird der Vorgang dadurch, daß der Heimarbeiter, statt für diese seine Mitarbeit entlohnt zu werden, selbst für sie zu zahlen hat; nämlich für die Produktionsmittel (das Gerät und, jedenfalls in vielen Ländern, auch für die Sendungen), durch deren Verwendung er sich in den Massenmenschen verwandeln lässt. Er zahlt also dafür, daß er sich selbst verkauft; selbst seine Unfreiheit, sogar die, die er mitherstellt, muß er, da auch diese zur Ware geworden ist, käuflich erwerben." (Anders 1956: 103)

Das wichtigste Wort im vorangegangenen Zitat ist - im Bezug auf "The Simulacra" - für mich das Wort "Unfreiheit". Dieses Wort spiegelt nämlich eines der Hauptgefühle der verschiedenen Romanfiguren. Man könnte fast sagen, dass das Gefühl der Unfreiheit ein zentrales Thema in den Gedanken der Figuren ist, ja fast schon den "Zeitgeist" der Romanwelt wiedergibt. Als Beispiel ließe sich hier der Wunsch einiger Figuren, auf den Mars auszuwander, nennen - und das, obwohl das Leben dort wesentlich beschwerlicher, aber auch freier wäre.

Der Fernseher in der Romanwelt konstituiert Realität. Diese Aussage lässt sich leicht anhand einer Stelle in "The Simulacra" verifizieren, in der Ian Duncan von Nicole Thibodeaux spricht:

Al fragt Ian:
"Bist du wirklich so sehr von einer Frau abhängig, die du noch nie in deinem Leben gesehen hast? Das ist doch schizophren. Du bist [...] von einer Illusion abhängig. Von etwas Synthetischem, Unwirklichem." (Dick 1964: 146)

Ian antwortet Al darauf:
"Was ist unwirklich? Was ist wirklich? Für mich ist sie wirklicher, als alles andere, dich eingeschlossen. Sogar wirklicher als ich selbst, als mein ganzes Leben." (Dick 1964: 146)

Wir sehen also wie weit sich Ian Duncans Realitätsbild bereits verschoben hat, das Realitätsbild von einer Frau, die er bis dato nur im Fernsehen gesehen hat und sie trotzdem für realer als alles andere - einschließlich sich selbst - hält. Wie konnte es aber soweit kommen; ist es tatsächlich möglich, dass der Fernsehapparat der Auslöser dieser Umformung von Wirklichkeit war?

"Wenn es [das Gut, Anm. d. Verf.] erst in seiner Reproduktionsform, also als Bild sozial wichtig wird, ist der Unterschied zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Bild aufgehoben." (Anders 1956: 111)

und weiter:
"Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muss das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize der Reproduktion werden." (Anders 1956: 111)

Auch die Aussage dieser Zitate kann durch den Roman belegt werden, nämlich durch das Verhältnis von Alter und optischer Erscheinung der First Lady Nicole Thibodeaux. Obwohl sie eigentlich schon 90 Jahre alt sein müsste (vgl. Dick 1964: 146), sieht sie immer noch wie 20 aus (vgl. Dick 1964: 144). Das Original richtet sich nach seiner Reproduktion - wenn auch durch den "relativ billigen" Trick, immer wieder neue, junge Schauspielerinnen als Nicole zu präsentieren.

Man sieht also, welch wichtige Stellung der Fernsehapparat in der Romanwelt von "The Simulacra" einnimmt; fast schon als ein zentrales Machtinstrument. Er konditioniert die Bürger und sichert der Regierung auf diese Weise eine Vormachtsstellung, die es ihr ermöglicht, totalitär zu regieren und trotzdem den Anschein von Demokratie zu wahren. In diesem Zusammenhang sollten wir uns vielleicht auch überlegen, welchen Stellenwert das Fernsehen in unserer Gesellschaft bereits hat und wohin uns das möglicherweise noch führen wird...

Bibliographie:

Anders, Günther (1956): Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck, 2002.
Dick, Philip Kindred (1964): Simulacra, München: Heyne, 2005.
Bild aus wikicommons, abgerufen am 01.06. 2009, LINK:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Big-logo-fon.jpg

Hier noch der Link zu einem Kurzfilm: "Simon" (von Niklas Horn), welcher sich auch mit der Thematik des Fernsehens beschäftigt - unbedingt anschauen!!!!!
http://freerainer.kinowelt.de/Gewinner/read/file/Simon/
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Die simulierte Welt des Philip K. Dick

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Zuletzt aktualisiert: 2. Jul, 10:15

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