IM AUGE DES BETRACHTERS- DIE FIGUR NICOLE THIBODEAUX

„Was sollen wir da noch tun? Warum können wir sie uns nicht einfach im Fernsehen ansehen? Mehr brauche ich nicht. Ich brauche nur das Bild von ihr, verstehst du?“

Der Blick als solcher und die damit verbundenen Fragen des Sichtbar Machens oder Unsichtbar Werdens spielen nicht nur in unserer westlichen Gesellschaft eine konstituierende und damit wesentliche Rolle, sondern auch in den gesellschaftlichen Strukturen von Simulacra: Wieso wird Nicole so verehrt? Wieso wundert sich niemand über ihre immer gleich bleibende Erscheinung? Wieso altert sie nicht?

Schon seit Jahrhunderten, genau genommen seit der griechischen Antike ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit untrennbar mit der Idee des Subjekts verbunden, dass sich durch die Augen konstituiert: Ich sehe etwas, also ist es auch da.

Am Beispiel der Figur Nicole Thibodeaux ist dies an verschiedenen Aspekten gut zu beobachten:

Nicole wird hauptsächlich über ihr mediales Bild wahrgenommen, tatsächlicher Kontakt mit ihr ist eher selten, dafür stahlt sie ihr Gesicht ins Wohnzimmer der Bürger, ob diese wollen oder nicht. Das Fernsehbild ist eine Simulation (Abbild eines realen Menschen, Gebäudes, Tieres, Gegenstands usw.) an sich, das sich das bereits beschriebene Prinzip der Wahrnehmung zu nutzen macht. Es kann per se (technisch) noch viel mehr leisten:
Der Zuschauer identifiziert sich mit dem betrachtenden Auge der Kamera, als auch mit dem Objekt diese Blickes: den Darstellern und den Rollen, die sie verkörpern (die Menschen wissen aber im Fall Nicole gar nicht, dass die Darstellung, die sie verfolgen- die Frau des Präsidenten, tatsächlich nur von einer Darstellerin, einer Schauspielerin simuliert wird).

„Was ist unwirklich? Was ist wirklich? Für mich ist sie wirklicher als alles andere, dich eingeschlossen. Sogar wirklicher als ich selbst, als mein ganzes Leben.“

Die Zuseher folgen den Bewegungen und den Ausschnitten der Kamera einerseits passiv, da sie keinerlei Einfluss auf den Bildausschnitt haben, erheben sich aber andererseits als Subjekt des Blickes.

Dass es sich bei Nicole um eine schöne junge Frau handelt, ist natürlich Absicht, wir orientieren uns gerne, an Menschen, denen wir ähnlich sind oder sein möchten, da wir uns so unserem Idealen-Ich auch ein Stück annähern können. Schönheit ist eins der höchsten Güter, die ein Mensch besitzen kann, Eigenschaften, die schönen Menschen zugeschrieben werden sind Erfolg, Glück, Macht, Zufriedenheit und Souveränität. So entsteht durch Nicole, bzw. das Bild von ihr, gleichzeitig mit der individuellen Annäherung an das Ideal-Ich eine Gemeinschaft. Der mediale Körper fungiert als konstitutiver Faktor des Kollektivs, denen genau das Streben nach diesen Eigenschaften zugeschrieben werden kann.
Dies erklärt auch die Unreflektiertheit, mit der das Bild von Nicole angenommen wird.

Am Beispiel von Ian, das bereits in einem vorangegangenen Blog gebracht wurde, möchte ich gerne noch auf einen anderen Aspekt des Blickes bzw. der Blickführung eingehen: Die Lust am Schauen.

Wie bereits erwähnt, ist Nicole eine attraktive junge Frau, der natürlich auch sexuell konnotieret Attribute zugeschrieben werden können.
Scheint es den ganzen Roman über so zu sein, dass sich im Gegensatz zur real existierenden Welt die patriachalischen Strukturen ins Gegenteil verkehrt haben und ein Matriarchat über die Gesellschaft wacht, ist man am Ende mit der Tatsache konfrontiert, dass die vermeintliche Hauptdarstellerin eine austauschbare Schauspielerin ist, deren Entscheidungskompetenzen auf Banalitäten zurückgefahren sind. Hinter Ihr stehen Männer, die im gesellschaftlichen und politischen Leben die Strippen ziehen.

Die Auswahl eines weiblichen Oberhauptes kann mit der physischen Rollenzuschreibung erklärt werden: Die Frau als Bild, der Mann als Träger des Blickes.

Laura Mulvey hat das in ihrem Aufsatz “Visuelle Lust und narratives Kino“ folgendermaßen formuliert: Die Lust am Schauen ist in aktiv/männlich und passiv/weiblich geteilt.
Frauen wird eine exhibitionistische Rolle zugeschrieben, welche „Angesehen- werden- Wollen“ konnotiert. Die Präsenz der Frau ist ein unverzichtbares Element der Zurschau-stellung im normalen narrativen Film, obwohl sie der Entwicklung des Handlungsstrangs zuwiderläuft, den Handlungsstrang in Momenten erotischer Kontemplation gefrieren lässt.

Budd Boetticher beschreibt die Rolle der Frau im Film ähnlich: “Sie ist es, oder vielmehr die Liebe oder Angst, die sie beim Helden auslöst, oder anders, das Interesse, das er für sie empfindet, die ihn so handeln lässt, wie er handelt. Die Frau an sich hat nicht die geringste Bedeutung.“

Die Figur Nicole Thibodeaux funktioniert genau so, da sie sowohl den Blick der Zuseher auf sich lenkt, als auch völlig inhaltsfrei existieren kann. Sie wird zur Wirklichkeit durch die ständige Präsenz ihres Bildes. Dabei ist es letzen Endes für die Zuseher vor den Bildschirmen unrelevant, dass sie eine Schauspielerin ist.

Baudry, Jean Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Psyche 48/1994, S. 1047-1074

Braun, Christina: Frauenkörper und medialer Leib. In: Müller-Funk, Wolfgang; Reck, Hans Ulrich (Hg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien/New York: 1996

Dick, Philip K.: Simulacra. München: Heine, 2005.

Merten, Klaus: Evolution der Kommunikation. In: Merten, Klaus (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen, 1994, S.141-162

Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Weissenberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt: 1995. S.55-73
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Zuletzt aktualisiert: 2. Jul, 10:15

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