Samstag, 11. April 2009

"You're watching Big Brother"

Anders als in dem von George Orwell in seinem Roman „1984” skizzierten totalitären Überwachungsstaat, welcher durch den Satz „Big Brother is watching you“ geprägt ist, gewinnt die Regierung in Philip K. Dick’s „Simulacra“ ihre autoritäre Macht aus einer viel unterschwelligeren Methode. Während das von Orwell geschaffene Machtgefüge von der genauen, ständigen Beobachtung und Kontrolle der Bürger durch „Teleschirme“ abhängt, gibt die „Ge“-Regierung bei Dick vor, es handle sich um eine Demokratie, in deren Gefüge die „Bes“ täglich durch das Medium Fernsehen, Einsicht und Mitbestimmungsrecht erhalten. Das Problem an diesem „gläsernen Staat“ ist jedoch, dass die übermittelten Informationen zumeist aus völlig sinnlosen Dokumentar- oder Kunstbeiträgen bestehen, welche nicht der Aufklärung dienen, sondern vielmehr einer Zerstreuung und Ablenkung des einfachen Volkes zuspielen. Neben Beiträgen über „glotzäugige Fische“ oder die Porzellansammlung der First Lady nimmt v.a. die Talentshow des Weißen Hauses einen Hauptprogrammteil ein. Für den einfachen, begabten „Be“ der „Simulacrawelt“ scheint es keine höhere Ehre zu geben, als einmal in dieser Sendung auftreten zu können, also einmal Eingang ins Weiße Haus zu erhalten, und die First Lady „Nicole Thibodeaux“ durch eine besondere Fähigkeit erfreuen zu dürfen.
Auf diese Weise nimmt Dick nicht nur den unsere heutige Gesellschaft bestimmenden „volksverdummenden, [...]-sucht-den-Superstar-Wahn“ vorweg, sondern zeigt hier gleichzeitig auch auf, wie der eigentliche Sinn eines Bildungsmediums in sein Gegenteil verkehrt werden kann. Der einfache Bürger glaubt nämlich über die Regierung genau Bescheid zu wissen, da er Einblick in das private Leben von Nicole erhält, und ihm sogar der Zugang zum Weißen Haus offen steht, wenn er sich nur genügend bemüht. Diese Teilhabe am Machtapparat spielt sich jedoch auf einer reinen Unterhaltungsebene ab, sodass die wahren Funktionsweisen und Organe des Staates für das Volk unantastbar bleiben. Die Kommunikation besteht also, genau wie in Baudrillards Medienkritik, aus einer „Rede ohne Antwort“ (Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Baudrillard ), also aus der Informationsübermittlung von einem „starren Sender“ zu einem „stummen Empfänger“.
Zwar werden im Buch auch Plebiszite beschrieben, doch betreffen diese nur unwesentliche Entscheidungen, wie etwa eine Verbesserung der Tonqualität der übermittelten Botschaft, und nehmen letztlich keinen Einfluss auf den Inhalt der Botschaft selbst.

Einfache „Bes“ wie etwa Ian Duncan scheinen zwar um die „Falle“ zu wissen, in der sie sich befinden, können jedoch dem Zauber der First Lady nicht entgehen, welche sie auf mehrfache Art zu lieben scheinen, u.a. als „Mutter, Ehefrau oder Herrin“. Dadurch dass diese Art der Gehirnwäsche auf „Liebe“ und „Familiensinn“ basiert, erscheint es auch nicht mehr verwunderlich, dass die „Kinder“ dieses Systems die Sendungen im Fernsehen bereitwillig ansehen und sich, im Gegensatz zu dem Protagonisten Winston Smith in „1984“, keinem Zwang ausgesetzt fühlen.

Trotzdem unterscheiden sich die beiden Regierungssysteme nicht darin, dass sie dem einfachen Volk ihren Willen aufzwingen wollen, auch wenn dies mit unterschiedlichen Methoden geschieht.
Nach Arthur Schopenhauers Empfinden wäre allerdings vermutlich die Form der Repression in Orwells Dystopie, die auf Gewalt und Gewaltandrohung basiert, der listigeren Vorgehensweise der „Ges“ in „Simulacrum“ noch vorzuziehen. Eine der schlimmsten Formen der Willensunterwerfung sieht der pessimistische Philosoph nämlich in der „Motivation“ (Vgl.: Konrad Paul Liessmann. Über Wahrheit und Lüge. In: Der Wille zum Schein, S.25f.). Diese stellt für ihn – aus der Perspektive des „Täters“ -, nichts anderes dar, als die Absicht, den anderen davon zu überzeugen, dass dessen Motive mit den eigenen übereinstimmen, und ihn durch diese „Scheinmotive“, die er verinnerlicht, dazu zu bringen etwas zu tun, was er eigentlich nicht will. Die Machthaber in Dicks Roman belügen die „Bes“ also nicht einfach, in dem Sinne, dass sie ihnen etwas anderes sagen, als sie selbst für wahr halten, vielmehr versuchen sie direkt Einfluss auf das Wahrheitsempfinden und Erkenntnisvermögen der Bürger zu nehmen und sie unmittelbar in ihrem Bewusstsein, ihrem ursprünglich freien Willen zu beeinflussen und zu steuern.
Vergleichbar wäre diese Methode wohl am ehesten mit unserer heutigen Werbeindustrie, die aus Schopenhauers Perspektive wohl auch eine „gigantische Lügenmaschine“ darstellen würde, welche den Menschen gegen seinen Willen zu Dingen bewegen möchte, von denen er glaubt, sie seien seinem eigenen Willen entsprungen (Vgl.: Liessmann: Ebd. S.29).
Einen besonders konzentrierten Versuch Einfluss auf den freien Willen zu nehmen, könnte man beispielsweise in den Werbestrategien großer Online-Versandthäuser entdecken. Diese speichern sämtliche Informationen, der von einem Kunden bestellten und betrachteten Objekte und bieten ihm später ähnliche Produkte an, welche angeblich mit seinem Käuferprofil übereinstimmen. Dadurch machen sie den Konsumenten glauben, dass diese Angebote seinen Wünschen entsprechen und nehmen somit folglich Einfluss auf sein Unterbewusstsein.

Der Einflussbereich der aktuellen PR-Welt liegt allerdings noch weit hinter der von Philip K. Dick prognostizierten Zukunft der Werbebranche zurück. In diesem Universum gibt es winzige „Theodorus-Nitz-Maschinen“, die in alle Bereiche des Lebens, gleich „lästigen Mücken“, massenhaft vordringen können und es vermögen den Empfänger ihrer Botschaft auf eine so penetrante Weise zu beeinflussen, dass sich aus ihrer Information – wie etwa bei Richard Kongrosian – sogar Neurosen entwickeln können. D.h. der Einfluss der Werbeindustrie dringt in Dicks prophezeitem Universum aggressiv bis ins Unterbewusstsein der Bevölkerung vor.
Derartige, die Psyche des Volkes belastende Faktoren scheinen den „Ges“ in „Simulacra“ zu dienen, da sie die Zerstreuung in den Köpfen der „Bes“ verstärken und davon abhalten sich Gedanken über die Funktionsweisen des Staates zu machen. Eine ähnliche Intention dürfte die Regierung wohl mit der zu Beginn des Romans erlassenen „McPhearson-Verordnung“ verfolgen. In dem Verbot der Psychoanalyse und dem statt dessen erfolgenden Einsatz von Drogen zur Behandlung psychischer Probleme, könnte man ebenfalls den Versuch erkennen, den Bürger von Gedanken über sich selbst und seine Situation abzubringen und ihn statt dessen in einen apathischen Zustand zu versetzen.

Was bringt den psychisch gesunden, nicht von Drogen beeinflussten Menschen im Universum von „Simulacra“ aber nun dazu der Regierung so bedingungslos zu vertrauen? Wie schaffen es die Machthaber in ihm eine derartige Liebe gegenüber der First Lady zu wecken?
Die Antwort darauf lässt sich ebenfalls in der Täuschung finden. Nicole Thibodeaux verdankt ihre Perfektion nämlich der Tatsache, dass sie eigentlich nur eine Rolle für mehrere Schauspielerinnen ist, die sie seit über siebzig Jahren nacheinander verkörperten. Fehler der Regierung können hingegen auf den jeweils amtierenden „Alten“ abgewälzt werden, der in Wirklichkeit auch nur ein „technisches Simulacrum“ ist, das alle paar Jahre durch einen „neuen Alten“ ersetzt wird.
Die Idee einen Schauspieler in ein politisches Amt einzusetzen ist nicht neu, doch entstand Dicks „Simulacra“ noch vor der politischen Karriere populärer Beispiele wie etwa Ronald Reagan, Arnold Schwarzenegger oder Peter Sodann. Ist also derjenige, der sich gut zu verstellen vermag, der geeignetere Kandidat für die politischen Bühne?
Im Prinzip verwies bereits Platon in seinem Dialog „Der kleinere Hippias“ (Vgl.: Liessmann. Ebd. S. 12) indirekt auf diese Option. Darin vertritt er die These, dass derjenige, der gut lügen kann – sieht man einmal von moralischen Aspekten ab -, eigentlich der kompetentere Mensch ist, da er mehr Handlungsmöglichkeiten besitzt. „Die Fähigkeit zu lügen setzt nämlich das Wissen der Wahrheit voraus.“ (Vgl.: Liessmann. Ebd. S. 13) Genau wie ein schneller Läufer, sowohl schnell, als auch langsam laufen kann, ein langsamer jedoch nicht einfach schnell, hat der Lügende immer auch die Option die Wahrheit zu sagen. Die Lüge oder Verstellung sind demnach als kommunikative Kompetenzen zu betrachten, während Wahrhaftigkeit immer die „einfachere“ Variante, also einen Mangel anzeigt. Des weiteren benötigt ein guter Lüger auch ein gutes Gedächtnis, damit er sein Lügengebäude aufrechterhalten kann. „Der Lügner muss also kreativ sein, etwas von einem Schauspieler an sich haben und über eine souveräne Kontrolle seines Erinnerungsvermögens verfügen, um jenen Widersprüchen zu entgehen, an denen der schlechte Lügner rasch zu scheitern pflegt“ (Vgl.: Liessmann. Ebd. S.15).
Auf die Frage wann und wo die „Kompetenz Lüge“ nun gerechtfertigt eingesetzt werden darf, kommt Platon in den Bereich der Politik. Seiner Ansicht nach darf die Lüge nur von Staatsführern in Notsituationen gegenüber inneren oder äußeren Gefahren als strategisches Mittel zum Einsatz kommen. Was wäre der Sinn einer Geheimdienst- oder Spionageaktion ohne die Lüge? Würde die öffentliche Ehrlichkeit von Politikern in Katastrophensituationen nicht oft zu einer Massenpanik führen?
Menschen werden jedoch häufig nicht von idealistischen sondern eigenen machtpolitischen Interessen angetrieben, sodass ihre Kompetenz der Verstellung oft nur dem Machterhalt Einzelner dient – wie etwa in der dystopischen Welt von „Simulacra“ - und nicht dem Gemeinwohl.

Bibliographie:

Dick, Philip K.: Simulacra. München: Heine, 2005.
Liessmann, Konrad Paul [hrsg.]: Der Wille zum Schein. über Wahrheit und Lüge. Wien: Zsolnay, 2005.
Orwell, George: 1984. Frankfurt/M; Berlin: Ullstein, 1992.
Robinson, Kim Stanley: Die Romane des Philip K. Dick: eine Monographie. Berlin: Shayol, 2005.
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Gesamtausgabe. München, dtv.: 2002.
logo

Die simulierte Welt des Philip K. Dick

Suche

 

Status

Online seit 5526 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2. Jul, 10:15

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren